Angesichts der weit verbreiteten materiellen Ungleichheiten in der heutigen Welt versuchen viele Christen im Westen, Leiden zu lindern, beispielsweise durch Entwicklungsarbeit oder einen missionarischen Dienst. Oft nutzen sie die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen – Wissen, Geld, Zugang zu den Menschen mit Einfluss, usw. – in ihrem Bestreben, anderen einen Aufstieg zu ermöglichen. Die Allianz für Verletzliche Mission möchte das Bewusstsein schärfen für was, was ein alternativer Ansatz bewirken kann. Anstatt zu versuchen, Menschen aus ihrer Armut „herauszuziehen” (mit Hilfe externer Ressourcen), ermutigt sie dazu, sich in die Armut der Menschen „hineinzubegeben”.

Jim Harries, Gründer der Allianz für Verletzliche Mission, hat in dieser Hinsicht weitreichende Anstrengungen unternommen. In diesem Beitrag teilt er Gedanken über seine Gründe, an der materiellen Armut der Menschen teilzuhaben.
Für manche mag es tugendhaft sein, die Armut der Armen zu teilen. Andere finden es vielleicht unbequem und ohne wirklichen Wert. „Die Armen“ selbst sehen vielleicht keinen Sinn darin, dass ein Außenstehender, der Zugang zu mehr Ressourcen hat, auf ihrem Niveau lebt. Es gibt aber einige gewichtige Gründe, warum ich es für erstrebenswert halte, die Armut von Menschen zu teilen:
1. Es erspart einem, dafür verantwortlich zu sein, dass andere materiell vorankommen. Menschen in vielen armen Gemeinschaften erwarten von Bessergestellten, dass sie ihnen etwas Hilfe zukommen lassen. Ein Missionar, der offensichtlich Zugang zu reichlich Ressourcen hat, wird schnell und leicht so gesehen. Die Forderungen kommen Schlag auf Schlag: Jemand braucht eine Fahrt in die Stadt, jemand anderes Schulgeld, jemand anderes Essen, jemand anderes die Bezahlung einer Krankenhausrechnung, jemand anderes Geld für eine Hochzeit und so weiter. Wenn man über Ressourcen verfügt und sie nicht auf diese Weise einsetzt, kann man als geizig oder unmoralisch angesehen werden. Sie auf diese Weise einzusetzen, kostet Zeit, Energie und Emotionen! Letztendlich übernimmt ein Missionar, der diesem Modell folgt, die Rolle einer Bank, die Geschenke und Kredite vergibt und in der Regel auch noch kostenlos Taxi fährt.
2. Das Teilen der Armut der Armen bereitet auf schwierigere Zeiten vor, in denen die eigenen Unterstützer nicht mehr so großzügig sind, weil sie vielleicht nicht mehr verstehen, was man tut und warum. Menschen im Westen haben eine Vorstellung davon, „wie man den Armen hilft“, in Afrika und darüber hinaus. Sie möchten, dass ihre Spenden nach ihrer eigenen Logik verwendet werden. Wer viel Zeit vor Ort verbringt, beginnt, diese Logik zu durchschauen. Die Dinge ergeben für einen auf andere Weise Sinn. Das bedeutet, dass ein Langzeitmissionar, der auf eine Weise arbeitet, die vor Ort Sinn ergibt, nach und nach die Unterstützung aus dem Ausland verlieren kann. Wenn er seinen Lebensstandard nicht senkt, gehen ihm die finanziellen Mittel aus.
3. Das Leben auf dem Niveau der „Armen“ erleichtert es, ihnen in anderer Weise nahe zu sein. Zumindest zeitweise kann es gelingen, die eigene Lebensweise an ihre anzupassen. Dies ermöglicht ein tiefes Verständnis dafür, was in einer Gemeinschaft vor sich geht. Dieses Verständnis wiederum führt zu der Erkenntnis, dass es nie so einfach ist wie „es wird mehr Geld benötigt“. Wenn man mit den Armen im Alltag unterwegs ist und ihre Armut teilt, kann eine Kameradschaft entstehen, die nicht auf Geld ausgerichtet ist. Es ist wunderbar, mit Menschen zusammen zu sein, ohne als die Bank vor Ort angesehen zu werden! Dann kann man beginnen, einen sinnvollen Beitrag zum lokalen Kontext zu leisten.
4. Die Angst vor Neid ist der Hauptfaktor, der Menschen in Armut gefangen hält. Neid ist eine schreckliche zwischenmenschliche Kraft. Er hat Milliarden in seiner Gewalt! In gewisser Weise hat er uns alle in seiner Gewalt. Er ist das Gegenteil von guter Moral, aber gleichzeitig eben auch gute Moral, und das verwirrt die Menschen. Das heißt, die gute Moral sagt: „Teile, was du hast”. Neid sagt: „Wenn du nicht teilst, was du hast, werde ich dich fertigmachen!” Die gute Moral sagt: „Helft einander”. Neid sagt: „Hilf mir, sonst ...!” So scheint Neid gute Moral zu unterstützen und sogar zu repräsentieren. Die Motivation ist unterschiedlich – man tut Gutes entweder aus Angst vor Neid oder aus Liebe zu Gott und den Menschen. Da der Unterschied zwischen Neid und Liebe klein ist, kann es schwierig sein, die beiden zu unterscheiden, obwohl Neid vom Teufel kommt und Liebe die Triebfeder der Frömmigkeit ist. Nachlassende Frömmigkeit, die zu einem Mangel an Moral führt, verschiebt den Fokus des Einzelnen und der Gemeinschaft hin zu Neid als treibender Kraft. Frömmigkeit kann einer Gemeinschaft großen Wohlstand bringen. Die Angst vor Neid endet in abstrakter Armut.
5. An Gott zu glauben (d. h. an den christlichen Gott, den Gott der Bibel) bedeutet, weniger neidisch zu sein. Afrikaner sind sich dessen oft mehr bewusst als Menschen im Westen. Menschen im Westen betrachten den christlichen Glauben häufig als Widerspruch zu ihrem Verständnis eines Dualismus zwischen Geistigem und Körperlichem, da er von ihnen verlangt, an etwas zu glauben, das Gott genannt wird und körperlich ist, obwohl es das nicht ist. Die Verbreitung dieses Irrglaubens, der das Christentum im Westen stark untergraben hat, führt zu Atheismus und Agnostizismus. Bei Letzteren wächst die Angst vor Neid leicht stärker als die Liebe. Afrikaner versuchen, ihren Glauben an Gott, ein Mittel zur Überwindung des Neids, durch die Zurschaustellung ihres Reichtums zu demonstrieren. Ironischerweise lehnen gerade diejenigen, die im Laufe der Geschichte vom Wohlstand profitiert haben, der aus dem Glauben an Christus entstanden ist, nämlich die Menschen im Westen, die zu den wohlhabendsten der Welt gehören, diese afrikanische Auffassung von Wohlstand ab. Für Westler bedeutet diese Selbstbereicherung, die als Wohlstandsevangelium betrachtet wird, dass Afrikaner die Früchte des Glaubens mehr lieben als den Glauben selbst oder Gott selbst. (Ich sage nicht, dass ich den Westlern nicht zustimme.)